Ein Blick auf den Pazifik

Mittwoch, 15. Juni 2011

Das Projekt Fußball in Los Guido

In einem vorherigem Blog-Eintrag hatte ich bereits kurz erwähnt, dass das Jugendrotkreuz sich im Problemviertel “Los Guido” sozial engagiert. Kernpunkt der Arbeit sind Freizeit- und Bildungsangebote für Jugendliche. So hatte im Oktober letzten Jahres, also kurz nach meiner Ankunft, Kollege Gabriel Sánchez die Idee, eine Fußballmannschaft aufzubauen.
Soweit ich weiß, gibt es in Los Guido nur einen Fußballplatz, der jedoch von der Stadtverwaltung nur für einen offiziellen Trainingsbetrieb freigegeben wird. Die Jungs im Ort haben zum Fußballspielen also eigentlich nur die Straße, eine Chance an einem geregelten Spielbetrieb teilzunehmen haben sie nicht.
Entwicklung einer Idee
Ende Oktober fanden die ersten Trainingseinheiten statt. Es kamen etwa fünf Leute. Als Gabriel erfuhr, dass Freiwilligenkollege Max und ich begeisterte Fußballspieler sind, wurden wir sofort in das Trainerteam mit eingebunden. In einer Aufbauphase von Oktober bis März etablierte sich Freitagnachmittag als fester Trainingstermin, es kamen immer mehr Jugendliche dazu, es sprach sich herum; Anfang März hatten wir teilweise über 30 Jungs auf dem Platz! Trainiert wurde bei jedem Wetter, ob bei knallender subtropischer Sonne oder im tropischen Gussregen.
Der Platz
Der Platz war also an regnerischen Tagen einigen Stellen sumpfig, an trockenen Tagen fast wie eine Wüste. 50 Meter neben dem Platz ist noch eine beliebte Müllabladestelle (der Müllabtransport in diesem Stadtteil funktionert nur sehr schlecht), häufig wurde der Müll während der Trainingszeiten einfach verbrannt, ein herrlicher Duft für den Deutschen, der Bad Sodens Vordertaunus-Kurstadtluft gewöhnt ist! Hinter dem Platz fließt ein kleiner Bach. Einige können sich nach dem Erzählten vielleicht vorstellen, wie der aussehen könnte: Das Wasser hat die Farbe blau-grau, bekommt die schöne Färbung wohl durch Müll und Seifenwasser, was hineingekippt wird. Eine alte Holzpalette und ein paar Ziegelsteine fungieren als “Brücke”. Da es auf einer Seite kein Hintertornetz gibt, fliegen Bälle häufiger mal in jenen Bach. Für mich ist es nach nun neun Monaten immer noch eine ekelige Angelegenheit, den Ball da raus zu fischen, die Jungs haben da schon weit weniger Probleme mit und lachen gerne über meine zögerliche Art den Ball zu fassen.
Der nächste Schritt
Nachdem sich Anfang März ein fester Stamm an Trainingsteilnehmern gebildet hatte, entschied Gabriel sich, die Mannschaft zu einem Turnier anzumelden. Gemeldet wurde eine Mannschaft der Jahrgänge 92/93, was also einer deutschen A-Jugend entspricht. Gespielt werden sollte in einer Stadtmeisterschaft der Stadt “Desamparados” in einer 5er-Liga mit Hin-und Rückspiel. Der Sieger der 5er-Liga würde die nächste Runde erreichen.
Die Mannschaft
Wie schon gesagt kamen regelmässig über zwanzig Leute und zwar verschiedenster Art. Um mal eines vorweg zu nehmen: die typischen Vorurteile, die man über Menschen solcher Viertel hat, treffen nur bedingt zu. Für die Mutter meiner ersten Gastfamilie war es zum Beispiel ganz einfach: die Bewohner dieser Viertel sind der Abschaum aus Nicaragua, sie sind von da hergekommen, um nicht arbeiten zu müssen, da sie von Transferleistungen  des costa-ricanischen Staates leben können und daher den Sozialstaat aushöhlen. Wer in so ein Viertel geht, wird mit Sicherheit überfallen.
In der Realität haben wir nur einen aus Nicaragua, ein sehr netter Kerl, der häufiger mal das Training ausfallen lassen mussen um – zu arbeiten.
Die meisten gehen noch zur Schule und sind einigermassen gut erzogen, benehmen sich gut und machen keinen Ärger. Andere haben die Schule beendet oder abgebrochen und haben teilweise ganz interessante Verdienste: Francisco alias “Spanky” hat zwei alte Billardtische auf Vordermann gebracht und vermietet diese für andere zum spielen; Gerardo alias “Lalo” entwirft Tatoo-Designs und hat schon fast die halbe Mannschaft damit beliefert…
Das letzte Drittel erfüllt schon eher die Klischees: arbeitslos, sie hängen viel auf der Strasse herum, von einem sitzt der Vater im Gefängnis. Aber just diese Gruppe kommt am regelmäßigsten zum Training. Leider jedoch immer mal wieder mit roten Augen und etwas benebelten Verstand. Die Schuldige? Die gute, alte Marie-Johanna! Obwohl sie eigentlich Platzverbot hat, nimmt sie des öfteren mit ihren Jungs am Training teil.

Schock und Höhepunkt
Ende April wurde Gabriel fristlos von einen Tag auf den anderen entlassen, weil plötzlich festgestellt wurde, dass Personal eingespart werden müsse. So wurde Max und mir das Projekt anvertraut. Da Max direkt in der Gewaltpräventionsabteilung arbeitet und ich diese nur unterstütze, erhielt er selbstverständlich die Oberaufsicht. Aus den deutschen Trainerteam-Mitläufern wurden über Nacht also “Director und Asistente Técnico”.
Die Trainingseinheiten gestalteten wir fortan etwas “deutscher” als Vorgänger Gabriel. Das heisst richtige Aufwärmphase, Dehnen, Konditionstraining, fußballspezifische Übungen und Abschlussspiel. Anstatt sich spontan Sachen auszudenken, bereiteten wir die Einheiten sorgfältig vor.
Obwohl wir vor allem bei den Konditionsübungen auf Widerstand stießen (“Wir wollen Fußball spielen”), haben wir es immer geschafft, den Trainingsbetrieb gut zu leiten.
Anfang Mai ging dann auch der Spielbetrieb los. Da die Jungs über keinerlei Wettkampferfahrung hatten, waren sie den anderen Mannschaften unterlegen. Ergebnistechnisch lief es also nicht so gut, aber teilweise zeigten sie gute Leistungen und man merkte ihnen an, dass es ihnen wichtig war und dass sie Spaß hatten.

Teambesprechung – oder Oliver-Kahn-Gedächtnis-Huldigung
Ein “Highlight” waren vor und nach den Spielen immer die Teambesprechungen. So in etwa sah zum Beispiel mal eine Nachbesprechung aus
Max: “Was haben beim Spiel schlecht gemacht, was können wir verbessern?”
Emmanuel: “Es ist so, ganz ehrlich, wir hatten nicht genug Eier…..” (Gemurmel im Hintergrund)
Max: “Hey, es redet nur einer – Tito!”
Tito: “Ja es war ganz einfach, die andere Mannschaft hatte mehr Eier.”
Max: “Mag ja sein, aber denkt mal mehr nach!”
Zurdo: “Ja wir haben so viele Gegentore bekommen, weil die Abwehr keine Eier hatte.”
Max: “Ok, ok Kapitän, was sagst du dazu?”
José: “Es war nicht nur die Abwehr, es war auch der Sturm. Wir müssen im nächsten Spiel auf jeden Fall unsere Eier auf den Platz tragen und sie zeigen.”
Ich denke, es ist leicht nachvollziebar, dass ich mich sehr anstrengen musste, mir das Lachen zu verkneifen. Letztlich mussten wir dann den Jungs doch noch alles erklären: Konzentration beim Einwurf, Aufrücken der Abwehr bei eigenem Ballbesitz, Defensivarbeit des Mittelfelds etc…

Skandalspiel und ungewisse Zukunft
Am letzten Samstag gab es das zweite Heimspiel vor einer, für dieses Level, großen Kulisse. Mindestens 50 Menschen kamen, um das Spiel zu verfolgen, es könnten aber auch mehr als 100 gewesen sein. Natürlich kamen von außen jede Menge Schmährufe, die sich hauptsächlich gegen den Schiedrichter und die Gegnermannschaft richteten, jedoch aber auch gegen unsere Spieler. Ob es an der Menschenmenge lag, weiss ich nicht, doch plötzlich sah ich, wie einer unserer Spieler völlig durchdrehte und auf einem Gegenspieler kniete und auf ihn einprügelte. Etwa zehn Minuten vorher hatte ich gesehen, wie unser Spieler dem Gegenspieler bereits eine Backpfeife gegeben hatte. Leider bekommt man an der Seitenlinie dann doch nicht alles mit, was auf dem Platz geschieht, es wurden wohl ein paar verbale Nettigkeiten ausgetauscht. Es gab im Anschluss an die Prügelei eine kleine Rudelbildung, ich stürmte auf den Platz, um gegebenenfalls einzugreifen. Es gab natürlich für beide Spieler gleich die Rote Karte. Zusätzlich heizte der Trainer der Gästemannschaft die Atmosphäre weiter an, indem er schrie, dass dies der Grund sei, dass keiner in dieses Viertel von Gestörten kommen wollte, direkt danach gingen seine eigenen Spieler verbal auf ihn los und bedeuteten ihm bestimmt, zu schweigen.
Glücklicherweise war kurz danach Halbzeit, damit sich die Gemüter beruhigen konnten. Doch irgendwie half auch das nicht, das Schlimmste sollte folgen. Nach etwa 20 Minuten kam ich gerade auf den Platz zurück, nachdem ich einen Ball geholt hatte, der über den Zaun geflogen war (an alle die mit mir mal Fussball gespielt haben: nein, diesmal war ich es nicht ;-)), ich sah wie einer unserer Spieler einen Meter hoch sprang und dem Schiedsrichter einen Tritt in die Brust versetzte. Als er zum nächsten Schlag ausholen wollte, wurde er bereits von seinen Mitspielern festgehalten. Der Auslöser? Mir wurde gesagt, dass der Schiedsrichter seinen Bruder als “Affengesicht” bezeichnet hatte.
Das Spiel wurde natürlich abgebrochen, der Schiedsrichter versteckte sich in der Schiedsrichterkabine, die Gastmannschaft kam auch erstmal nicht aus der Umkleide heraus. Unsere Jungs zogen sich draußen um und verweilten in der Strasse mit zahlreichen Zuschauern. Wegen der Menschenmenge vor dem Platz weigerten sich Schiedsrichter und Gastmannschaft ohne Polizeischutz zum Bus zu laufen. Es kamen sechs Streifenbeamte und ein Wagen, der normalerweise für Häftlinge bestimmt ist, um die Leute wegzutransportieren.
Ich bin mir sicher, es wäre nicht weiter eskaliert, so schnell, wie sich lateinamerikanische Gemüter erhitzen, so schnell kühlen sie auch wieder ab. Unsere beiden Schläger-Spieler hatten sich zum Beispiel wieder beruhigt und machten Witze. Doch da sind wir wieder beim Thema Vorurteile: Externe gehen in diesem Ort einfach davon aus, dass etwas passiert.
Die Zukunft dieses Projektes ist wegen der Ereignisse natürlich ungewiss. Da wir als Rotes Kreuz Organisator dieses Projektes sind, steht nämlich mehr auf dem Spiel, als wenn wir nur eine einfache Mannschaft wären. Die Zuschauer haben natürlich nicht das Detailwissen oder eine differenzierte Sichtweise. Sie sehen nämlich nur, dass da ein Spiel vom Roten Kreuz stattfindet und dass die Polizei anrücken muss, um Ordnung zu halten. Es steht also in gewisser Weise die Reputation der Institution auf dem Spiel. Daher überlegen wir derzeit, die Mannschaft zurückzuziehen.
Wie so häufig
gibt es von wenig “Idioten” viele Leidtragende. Letztenendes haben sich nur zwei Spieler daneben benommen, aber das hat gereicht, dass das Spiel abgebrochen wurde und dass das Projekt nun auf der Kippe steht. Alle anderen haben sich relativ gut benommen, um sie tut es mir ziemlich Leid. Ich hoffe, es geht irgendwie weiter, wenn auch in anderer Form. Es hat mir Spaß gemacht und ich habe auch selbst einiges gelernt. Trotz des schlechten Rufes habe ich in diesem Viertel viele nette Menschen kennen gelernt, an denen man eigentlich nichts aussetzen kann, bin auch schon einige Male durch die Straßen gelaufen, allzu große Angst hatte ich eigentlich nie.

2 Kommentare:

  1. Hola :)
    Dein Blog ist echt interessant zu lesen, ich habe auch vor, Weltwärts nach Costa Rica zu gehen. Da war dein Blog eine grosse Hilfe. Ist echt interessant zu lesen, ich schau bestimmt bald wieder rein. Viel Spass noch in CR und keep on writing. Liebe Grüsse :)

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  2. Freut mich, helfen zu können! Hoffentlich klappt das dann auch mit dem Jahr hier, viel Glück dabei.

    ¡Pura Vida!

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